Veranstaltung: | Digitaler Parteitag (LDK) |
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Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Landesausschuss |
Beschlossen am: | 12.12.2020 |
Eingereicht: | 16.12.2020, 10:36 |
Antragshistorie: | Version 1 |
Zugang zum Recht für alle!
Beschlusstext
Auch in Bayern stehen viele Menschen vor erheblichen finanziellen und sozialen
Schwierigkeiten und fühlen sich oftmals vom System „abgehängt“. Einer der Gründe
dafür sind die immer wieder zu hohen Hürden vor dem Zugang zum Rechtssystem.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stehen für eine Gesellschaft, die allen Menschen gute
Chancen ermöglicht. Darum wollen wir, dass der Zugang zum Recht allen offen
steht. Wir setzen uns deshalb für die folgenden Maßnahmen ein, die ein Teil der
Lösung dieser Schwierigkeiten sein können:
1. Angemessene Rechtsanwaltsvergütung
Wir fordern eine Anhebung der Rechtsanwaltsvergütung und strukturelle Änderungen
im Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG). Insbesondere in
Familienrechtsangelegenheiten wird das RVG nicht der Lebenswirklichkeit gerecht.
Die entstandenen Kosten werden oft nicht durch das RVG gedeckt. Dies wirkt sich
unmittelbar auf den Zugang zum Recht aus. Verfahren, die nicht kostendeckend
sind, werden von Rechtsanwält*innen nicht immer übernommen. Insbesondere in
Großstädten wird in Kanzleien immer mehr auf Honorarvereinbarungen
zurückgegriffen, die sich längst nicht alle Menschen leisten können.
Die Rechtsanwältin auf dem Land ist für den Zugang zum Recht das, was die
Hausärztin im Gesundheitswesen ist. Um die flächendeckende Versorgung mit
Rechtsanwält*innen sicherzustellen, muss die Rechtsanwaltsvergütung im Rahmen
des RVG deutlich erhöht werden. Momentan befindet sich ein Gesetz zur Änderung
des Justizkosten- und des Rechtsanwaltsvergütungsrechts
(Kostenrechtsänderungsgesetz 2021 – KostRÄG 2021) im Gesetzgebungsverfahren.
Allerdings bleibt dies weit hinter den Forderungen der Bundesrechtsanwaltskammer
(BRAK) und des Deutschen Anwaltvereins (DAV) zurück. Insbesondere wird bei
Beibehaltung dieses Gesetzesentwurfs immer noch nicht vollständig erreicht, dass
die gestiegenen Kosten für den Kanzleibetrieb ausgeglichen werden. Des Weiteren
sollen die Anpassungszeiträume kürzer werden. Der Deutsche Anwaltverein hat
schon lange einen Forderungskatalog von gewünschten strukturellen Änderungen und
der Vorstellung der Anhebung der Gebührentabelle zusammengestellt. Diese
Forderungen unterstützen wir.
2. Rechtsberatungsstellen an allen Amtsgerichten in Bayern
Wir fordern die Einrichtung von Rechtsberatungsstellen für Menschen mit geringem
Einkommen an allen bayerischen Amtsgerichten. Gleichzeitig muss dieses Angebot
durch eine Informationskampagne allen Betroffenen zugänglich gemacht werden.
Viele Menschen fühlen sich, auch in Bayern, „abgehängt“ und nicht als Teil der
Gesellschaft. Einer der Gründe ist der fehlende flächendeckende Zugang zu
unserem Rechtssystem. Armut ist auch in Bayern vor allem ein weibliches Problem.
Die zweitgrößte Gruppe sind Alleinerziehende. Aktuell sind fast 43 % der
Alleinerziehenden in der Bundesrepublik von Armut bedroht. Dabei sind 9 von 10
Alleinerziehenden Frauen. Gerade sie haben oft nur ein geringes Einkommen zur
Verfügung und sind daher oft Bezieherinnen von Sozialleistungen. Sei es ein
Miet- oder Heizkostenzuschuss, Zuschüsse für Mittagessen in der KiTa oder für
Musikunterricht. Nicht immer werden die berechtigten Sozialleistungen
reibungslos und in der richtigen Höhe ausbezahlt. Hinzu kommen Probleme mit
Arbeitgeber*innen und Vermieter*innen. Care-Arbeit wird nach wie vor nicht
honoriert mit der Folge, dass auch vor allem Frauen, die lebenslang wegen der
Pflege von Angehörigen nur in Teilzeit berufstätig waren, von einer geringen
Rente leben müssen. Gerade dann entsteht aber ein erhöhter Beratungsbedarf rund
um die Themen Pflege, Vorsorge und Betreuung.
Geld für eine Rechtsschutzversicherung, die die Kosten einer anwaltlichen
Beratung oder Vertretung tragen würde, fehlt. Auch das Instrument der
Beratungshilfe führt in der Praxis nicht dazu, dass diese Menschen auch
qualifizierten Rechtsrat erhalten. Rechtsmittel gegen fehlerhafte Bescheide,
Kündigungen oder Sonstiges sind immer fristgebunden. Gleichzeitig ist es
schwierig, einen passenden Rechtsbeistand vor Ort zu finden, die/der
wirtschaftlich nicht rentable Beratungshilfemandate auch annehmen kann und will.
Hier sind wir gefordert, diese Menschen zur ermächtigen, sich um die
Angelegenheiten des täglichen Lebens zu kümmern und ihnen und ihren Familien die
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Vereinzelt gibt es in
Bayern in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Anwaltverein e.V. bzw. den örtlichen
Anwaltvereinen bereits feste wöchentliche Beratungssprechstunden in den
Amtsgerichten Augsburg, Dachau, Ebersberg, München und Wolfratshausen. Die
Ausweitung dieses Angebots ist unbedingt voranzutreiben, um zu gewährleisten,
dass in ganz Bayern, in der Stadt und auf dem Land, alle Bürger*innen unabhängig
von ihrem Wohnort, Bildungsgrad und Einkommen Zugang zu unserem Rechtssystem
erhalten. Gleichwertige Lebensverhältnisse gehören verstärkt in den Fokus
unserer politischen Arbeit. Sie herzustellen fördert das Vertrauen in einen
gerechten Rechtsstaat und die Demokratie.
Ganz konkret fordern wir:
- Die Einrichtung von Rechtsberatungsstellen mit juristisch ausgebildeten
Beratungspersonen an allen Bayerischen Amtsgerichten
- Eine groß angelegte Informationskampagne in Ämtern, Beratungsstellen, KiTas,
Schulen, (Sport-)Vereinen, öffentlichen Plätzen, sozialen Medien
- Die Vernetzung mit den Anwaltvereinen und bereits bestehenden Beratungsstellen
wie z.B. Pflegestützpunkte, Schuldnerberatungsstellen der caritativen Träger,
Asylsozialberatungsstellen, Frauenhäuser
3. Bayerisches Schlichtungsgesetz wieder erweitern
Um die Amtsgerichte zu entlasten, fordern wir zudem die Wiedereinführung des
bayerischen Schlichtungsgesetzes in seiner ursprünglichen Form. Künftig soll
dieses wieder für Rechtsstreitigkeiten mit geringem Streitwert verpflichtend
angewendet werden müssen. Dafür kann der Streitwert von bis zu 750,00 €
angesetzt werden. Nach dieser früheren Rechtslage war für solche Streitigkeiten
zwingend ein Schlichtungsverfahren vor einer anerkannten Schlichtungs- oder
Gütestelle durchzuführen, bevor geklagt werden kann. Gerade in diesem geringen
Streitwertbereich können Probleme im Vorfeld zwischen den Parteien
einvernehmlich gelöst werden und müssten nicht unbedingt vor Gericht landen.
Durch ein solches wieder erweitertes Schlichtungsgesetz werden die Amtsgerichte
entlastet und dadurch wichtige Kapazitäten frei.
4. Jugendämter personell und finanziell aufstocken und
Unterhaltsvorschussabteilungen ausbauen
Wir fordern die personelle Aufstockung der Jugendämter: Die
Erziehungsberatungsstellen der Jugendämter sind personell nicht gut aufgestellt
mit der Folge, dass viele Verfahren zur Regelung des Umgangsrechts vor den
Amtsgerichten verhandelt werden. Für alle Beteiligten ist dies in der Regel
nicht der optimale Weg. Gerade für Menschen mit geringem Einkommen, denn der
Umgang kann zwischen den Parteien einvernehmlich mit dem Jugendamt kostenfrei
vereinbart werden. Zudem sind die Mitarbeiter*innen der Jugendämter hierfür
besser ausgebildet als Richter*innen und Rechtsanwält*innen. Es kommt hinzu,
dass aufgrund der schlechten personellen Ausstattung der Jugendämter das
Kindeswohl erst viel zu spät in den Fokus der Arbeit rücken kann. Die vielen
guten Hilfsangebote der Jugendämter zur Unterstützung von Familien und
Alleinerziehenden sind meist nur Theorien, weil das Personal für die Umsetzung
fehlt.
Wir fordern die personelle Aufstockung der Unterhaltsvorschussabteilungen der
Jugendämter: Seit der Novellierung der gesetzlichen Regelung zum
Unterhaltsvorschuss im Jahr 2017 hat sich die Zahl der Kinder, die Leistungen
nach dem Unterhaltsvorschussgesetz erhalten, verdoppelt. Im Jahr 2019 wurden
bundesweit 2,18 Milliarden Euro ausbezahlt. Nur 17 % hiervon wurde von den
Unterhaltspflichtigen wieder beigetrieben mit der Folge, dass im Staatshaushalt
eine Belastung von 1,8 Milliarden Euro verbleibt. Dieses Geld wäre jedoch
dringend notwendig, um die oben beschriebene bessere Ausstattung der Jugendämter
finanzieren zu können.
5. Mobile Rechtsberatung vor allem in Flächenlandkreisen unterstützen
Insbesondere in ostdeutschen Bundesländern, wo durch die Zusammenlegung von
Landkreisen die Wege zur Kreisstadt länger geworden sind, gibt es bereits viele
sehr gute Beispiele dafür, wie es die Anwaltschaft aus eigenem Antrieb geschafft
hat, zum einen besser Mandate zu generieren und zum anderen unkompliziert
sicherzustellen, dass alle Bürgerinnen und Bürger des Landkreises Zugang zum
Rechtssystem haben. Bereits bestehende Modelle sind entweder eine „Bauwagen-
Sozietät“, bei der mehrere Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte zusammen einen
Bauwagen in ein richtiges Büro umgewandelt haben und nach Rücksprache mit den
Bürgermeister*innen der einzelnen Städte eines Landkreises reihum an festen
Tagen Rechtsberatung vor der Haustüre anbieten. Alternativ dazu gibt es das
Modell auch in Räumlichkeiten der Rathäuser oder sonstigen öffentlichen
Einrichtungen. Dies ist insbesondere für Menschen, die aus finanziellen oder
Altersgründen nicht (mehr) mobil sind, eine gute Möglichkeit, Zugang zu
anwaltlicher Vertretung zu bekommen. Um dieses Modell voranzutreiben, sollte es
finanziell vom Justizministerium unterstützt werden.
6. Gruppenklage
Elementar für einen besseren Zugang zum Recht in sehr vielen Fällen ist die
Einführung kollektiver Klagemöglichkeiten (Musterfeststellungsklage,
Sammelklageverfahren oder auch: Gruppenklage). Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN hat dazu in den Bundestag einen Gesetzentwurf eingebracht
(Bundestagsdrucksache-Nummer 19/243). Derzeit gibt es das Problem, dass die von
rechtswidrigen Handlungen Betroffenen nur in den seltensten Fällen auf
Instrumente kollektiven Rechtsschutzes zurückgreifen können, um ihre Ansprüche
gemeinsam durchzusetzen. Sehr deutlich wurde dies bei den Klagen gegen
Autohersteller wegen des Abgasskandals. Eine einfache und effektive
Gruppenklage-Möglichkeit kann in den Fällen, in denen sehr viele Personen
gemeinsam Ansprüche haben, den Zugang zum Recht erleichtern und somit auch einen
Beitrag zur Entlastung der Gerichte leisten.
7. Unbefriedigter Rechtsbedarf („unmet legal needs“): Gibt es zu hohe Hürden?
Die Bundesregierung hat nach langem Drängen - u.a. durch die Bundestagsfraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - eine Studie in Auftrag gegeben, um zu klären, welche
Ursachen es hat, dass die Zahl der Gerichtsverfahren in manchen Bereichen -
insbesondere im Zivilrecht - seit Jahren zurückgeht. Es ist zu befürchten, dass
dieser Rückgang auch daran liegt, dass viele Personen auf an sich berechtigte
Ansprüche verzichten, weil für sie die Hürden für ihre Rechtsdurchsetzung zu
hoch sind. Darum ist es notwendig, dass künftig kontinuierlich die
rechtssoziologische und rechtsempirische Forschung zu diesen Fragen etabliert
und ausgebaut wird. Ergänzend zu den Aufgaben der Bundesebene sollte an dieser
Stelle auch das Bayerische Staatsministerium der Justiz Initiativen ergreifen
und die entsprechende Forschung unterstützen.
8. Sozialrecht: Anwält*innen und Verbände besser ausstatten - Revisionen
erleichtern
Für Menschen mit geringen finanziellen Möglichkeiten ist gerade das Sozialrecht
und die Sozialgerichtsbarkeit oftmals die zentrale Stelle, um ihre Ansprüche
durchsetzen zu können. Hier sollte die Deckelung von Sozialgerichtsgebühren und
damit auch der Anwaltskosten dazu führen, dass der Zugang zu den Gerichten
erleichtert wird. Tatsächlich wird nun aber von vielen Gerichten und
Expert*innen vor diesem Hintergrund beklagt, dass die Qualität der anwaltlichen
Vertretung oftmals eher gering ist. Es ist auch für die Anwaltskanzleien nicht
zu leisten, Kenntnisse zu erwerben in einem Bereich, in dem die Kosten nicht
gedeckt werden können und schon gar nicht an das Erzielen von Gewinnen zu denken
ist. Somit könnte durch eine Erhöhung der möglichen Einnahmen für die
Rechtsanwält*innen im Sozialrecht es etlichen Kanzleien erleichtert werden, in
diesem Feld tätig zu werden und zu bleiben. Diese Schwierigkeit haben freilich
nicht alle Beteiligten, es ist aber ein immer wieder berichtetes Phänomen, dass
die geringen Kosten zu Qualitätseinbußen führen können. Dies führt auch dazu,
dass etwa Revisionen an formalen Hürden scheitern, obwohl die aufgeworfenen
Rechtsfragen durchaus von grundsätzlicher Bedeutung sind. Darum wäre es
sinnvoll, wenn durch entsprechende Änderungen der Bundesgesetze ermöglicht
würde, dass in diesem Bereich die Revisionsgerichte mehr Spielraum bekommen, um
formelle Defizite zu überwinden. Außerdem ist es wichtig, dass die Verbände in
diesem Bereich gestärkt werden und es ihnen erleichtert wird, ihre Beratungs-
und Vertretungsleistungen noch mehr Personen in noch besserer Qualität und mit
einer noch größeren Intensität anzubieten. Dies kann etwa durch (erhöhte)
staatliche Finanzzuschüsse erreicht werden.
Diese vorgeschlagenen Maßnahmen wären ein Schritt, um allen Menschen einen
besseren Zugang zum Recht zu ermöglichen. Dies kann somit ein Teil einer
notwendigen umfassenden Stärkung der Sozialpolitik sein.