Veranstaltung: | Digitaler Parteitag |
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Antragsteller*in: | Herbert Sirois (KV Ansbach) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 18.06.2020, 07:27 |
A1: Mut zur „Konsultative“: Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung
Antragstext
Ziel der Politik von Bündnis 90/Die Grünen ist eine frühzeitige und
tiefgreifende Konsultation der Bürger*innenschaft bei allen öffentlichen
Projekten. Wir wollen keine Politik für Menschen, sondern Politik mit und von
Menschen.
Dafür wollen wir, dass künftig den Entscheidungsverfahren auf allen Bürokratie-
und Verwaltungsebenen eine neue Form der Konsultationsverfahren verpflichtend
vorangestellt wird: Hierzu sind zukünftig beratende Bürgerbeteiligungsverfahren,
im Sinne zufallsrekrutierter Konsensuskonferenzen, gesetzlich verpflichtend für
alle Infrastrukturentscheidungen anzuwenden.
Zur Absicherung und Entwicklung strukturierter und geordneter Verfahren der
beratenden Bürgerbeteiligungsprozesse fordern Bündnis 90/Die Grünen, auf allen
betroffenen Hierarchieebenen unabhängige und zur Neutralität
verpflichteteKoordinierungsstellen für die Beteiligung der Bürgerinnen und
Bürger in Konsultativverfahren einzurichten. Deren Aufgabe soll es sein,
Leitlinien für eine konsultative Struktur in Gesetzen und Verordnungen sowie der
öffentlichen Projektentwicklung zu entwerfen und fortzuschreiben. Die
Koordinierungsstellen sollen zudem die Partizipationskultur fördern, frühzeitig
(bereits zu Beginn von Projektierungsüberlegungen) alle anstehenden Vorhaben
öffentlich machen und Konsultativverfahren organisieren sowie begleiten.
Begründung
Im heutigen Politikbetrieb mangelt es an Erörterung und gründlicher Beratung der öffentlichen Angelegenheiten zu einer Zeit, in der Projekte noch formbar sind. Politik und Behörden nutzen viel lieber genehme Experten*innenmeinungen, die immer häufiger Resultat von Lobbyarbeit sind. Der Beratungsprozess* muss deshalb dringend repolitisiert werden. Die demokratische Souveränin, die Bürger*innenschaft, muss über die Errichtung eines Netzwerkes von „Konsensuskonferenzen“ maßgeblich und verbindlich bereits an frühen Projektschritten beteiligt werden. Der obenstehende Antrag formuliert deshalb die Forderung nach einer konsultativen „Beteiligungsrevolution“. Dabei steht nicht der Appell für eine „neue“ außerparlamentarische Opposition im Zentrum, und per se auch keine Beschränkung der etablierten Gewalten, sondern die Notwendigkeit, den staatlichen Bürokratien zu zeigen, dass ihre sozialen, ökonomischen und kulturellen Projekte nur mit und nicht ohne oder gar gegen die informierten Bürger*innen gelingen können! Der bestehende „Beteiligungsstau“ - ausgelöst von einer Politik, die Entscheidungen oft als alternativlos beschreibt und emotionslos exekutiert, - fördert Politikverdrossenheit sowie Populismus und muss überwunden werden. Selbst der Deutsche Städtetag stellt seit langem fest:
„Es zeigt sich, dass Legitimität diskursiv geworden ist, häufig nur im Wege der wechselseitigen Überzeugung und des Aushandelns zustande kommt“ undempfiehlt entsprechend den Kommunen, „sich systematisch mit der lokalen Beteiligungs- und Planungskultur zu beschäftigen“.**
Der absehbaren, reflexartigen Kritik, hier solle ein neues „Bürokratiemonster“ geschaffen werden, kann wie folgt entgegengetreten werden:
- Ja, echte Beteiligung wird Zeit, Geld und struktureller Voraussetzungen bedürfen.
- Eine glaubwürdige Bürger*innenbeteiligung wird aber gewiss nicht mehr Aufwand in Anspruch nehmen als die heute inflationär zunehmende Zahl von langwierigen sowie kostspieligen öffentlichen und juristischen Auseinandersetzungen über Planungsvorhaben.
- Bürokratische Entscheidungen, selbst wenn diese auf neutralem Expertenwissen basieren, können nur durch einen wechselseitigen Lernprozess zwischen Politik, Wissenschaft und Gesellschaft demokratieverträglich gemacht werden.
- Konsensuskonferenzen fördern langfristig die partizipative Einstellung, die Haltung zur Demokratie und auch das Vertrauen in die eigenen politischen Fähigkeiten. So stellt der Evaluationsbericht des 2019 abgehaltenen „Bürgerrats Demokratie“ fest, dass über die Hälfte der Teilnehmer*innen angibt, die Teilnahme am Bürgerrat hätte ihre Bereitschaft zu wählen oder die Bereitschaft der Mediennutzung, um sich stärker politisch zu informieren, erhöht. ***
Bündnis 90/Die Grünen ist schon aus Überzeugung und Tradition eine Partei, die das hohe Gut der Beteiligungsdemokratie betont und deren Ausbau als zentrales Ziel definiert. Es muss somit unsere unbedingte Absicht sein, ein gesellschaftliches Klima zu fördern, in welchem sich mehr Bürgerinnen und Bürger als bisher nicht länger als Wutbürger*innen, sondern als Mutbürger*innen konstruktiv an der Gestaltung einer nachhaltigen Zukunft beteiligen. Wir sind damit die politische Kraft, die sich für mutige Entscheidungen hin zu einer „Beteiligungsrevolution“ aussprechen muss.
* Inhaltliche Anregung finden Antrag und Begründung in den Ausführungen von Patrizia Nanz und Claus Leggewie in deren Werk Die Konsultative. Siehe hierzu: Nanz, Patrizia; Leggewie, Claus: Die Konsultative. Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung, Berlin 2016.
** Thesen zur Weiterentwicklung lokaler Demokratie: Deutscher Städtetag – Bürgerbeteiligung als Chance begreifen – lebendige lokale Demokratie fördern. Pressemitteilung, Berlin 22.11.2013.
Unterstützer*innen
- David Schiepek (KV Ansbach)
- Oliver Rühl (KV Ansbach)
- Anja Völkel (KV Ansbach)
- Günter Ries (KV Ansbach)
- Philipp Hörber (KV Ansbach)
- Simon Mayr (KV Ansbach)
- Uwe Schreiner (KV Ansbach)
- Sabine Stein-Hoberg (KV Ansbach)
- Yasmin Hübel (KV Ansbach)
- Dirk Sauer (KV Ansbach)
- Gerhard Zitzmann (KV Ansbach)
- Bernhard Schmid (KV Ansbach)
- Gerhard Stümpfig (KV Ansbach)
- 15 Michaela Stümpfig (KV Ansbach)
- Christa Spiegl (KV Ansbach)
- Manfred Eschenbacher (KV Ansbach)
- Wolfgang Hauf (KV Ansbach)
- Gabi Schaaf (KV Ansbach)
- David Sirois (KV Ansbach)
- Judith Bogner (KV Mühldorf)
- Andreas Gumminger (KV Mühldorf)
- Angelica Schieder (KV Landshut-Stadt)
- Timm Schulze (KV Bamberg-Stadt)
- Oliver Haas (KV München)
Kommentare
Judith Bogner:
In Ergänzung der o.g. Quellen 2 Hinweise auf praktische positive Beispiele in anderen Ländern:
Ireland - Die Texte für die Referenda zur Abschaffung des Abtreibungsparagraphen und für die Ehe für Alle wurden von einem Citizens Assembly von 99 Bürger*innen vorbereitet und erst dann im Parlament beraten. Hier Berichte von Mitgliedern des Citizens Assembly: https://www.theguardian.com/commentisfree/2019/jan/16/citizens-assembly-ireland-abortion-referendum
Taiwan/Colorado - Mit Hilfe von Quadratic Voting legen BürgerInnen Präferenzen für Themen bzw Entscheidungen fest. In Taiwan nimmt mittlerweile die Hälfte der Wahlberechtigten Bevölkerung aktiv und digital an Entscheidungen der Regierung teil.
Mehr hier (Gift Link) zu Taiwan https://on.ft.com/3hZaNHN und hier zu Colorado: https://towardsdatascience.com/what-is-quadratic-voting-4f81805d5a06
Timm Schulze:
Ich empfinde grundsätzlich Sympathie für das Anliegen des Antrages. Allerdings geht für mich aus dem Antrag nicht eindeutig hervor, was genau einen Konsultationsprozess vorangestellt bekommen soll.
Der Antrag spricht an einer Stelle von „Infrastrukturentscheidungen“, spricht aber zuvor allgemeiner von „den Entscheidungsverfahren“. Auch außerhalb von Infrastrukturprojekten?
Ich bitte daher um eine Klarstellung, welche Entscheidungsprozesse genau den Konsultationsprozess vorangestellt bekommen sollen. Vielen Dank.
Dr. Herbert Sirois:
danke für deine Nachfrage. Der Antrag war schon mal viel ausführlicher, allerdings auch viel länger. Grundsätzlich muss man die Ebenen unterscheiden. Ich folge komplett dem Ansatz von Judith in Bezug auf die Notwendigkeit, mehr Bürgerbeteiligung auf Bundes- und Länderebene durchzusetzen. Hier gibt es nicht nur tolle internationale Vorbilder, sondern zumindest mit dem gerade beschlossenen Bürgerrat zur Erstellung eines Bürgergutachtens für das Parlament einen ersten, wenn auch sehr ausbaufähigen Ansatz.
Mir persönlich geht es neben der o.g. Idee sogar noch stärker um die Gemeinde-, Stadt- und Landkreisebene, sozusagen den Nährboden der Demokratie. Im Kern möchte ich genau dort die Idee von zufallsgenerierten Bürgerräten etabliert sehen. Diese Gremien sollen Entscheidungen ab einem gewissen Volumen, aus meiner Sicht wäre dies ab einer Investitionssumme von 1.000.000 Euro sinnhaft, verbindlich begleiten und ihre Hinweise/Empfehlungen müssen von den Behörden bereits in den Planungen kontinuierlich und verbindlich abgewogen werden. An den bestehenden Verfahren ändert sich also primär die permanente Draufsicht eines Gremiums, das zwar keine direkte Entscheidungsbefugnis hat, dessen Empfehlungen aber bindend und juristisch abgesichert ernst genommen werden müssen. Vorteile wären:
- Transparenz ist in Verfahren von Anfang an natürlich gegeben. Geheimniskrämerei und Verfahrenstricks, wie bei InterFranken, unserem lokalen Sündenfall beim Flächenverbrauch in Mittelfranken, wären vom Tisch.
- Eine Tradition übersichtlicher regionaler Beteiligungsverfahren für Bürger*innen kann etabliert werden.
- Die meist peinlichen und viel zu spät stattfindenden Abwägungsverfahren öffentlicher Belange, die häufig einer Farce gleichen, wären Vergangenheit.
- Verfahren könnten trotzdem rechtsverbindlich durchgeführt werden.
- Die Umsetzungsfähigkeit ist zügig gegeben, da z.B. die kommunale Planungshoheit nicht abgeschafft wird.
Generell würde ich eine komplette Behandlung aller Angelegenheiten der öffentlichen Daseinsvorsorge gerne solchen Prozessen unterziehen. Um das derzeitige System aber nicht zu überfordern, wäre wohl der Einstieg insbesondere bei Infrastrukturmaßnahmen (Straßenbau, Industrie-, Gewerbe- und Wohngebiete, Energie- und Telekommunikationsinfrastruktur usw.) sinnhaft.
Timm Schulze (KV Bamberg-Stadt):